Mein Freund wurde misshandelt, missbraucht, hat große Angst vor Sex
Seit 3 Jahren zusammen, aber noch nie Sex: Wenn unsere Berührungen eine bestimmte Stufe überschreiten, zittert er sehr oder weicht aus
Hallo Beatrice,
mein Freund (23) und ich (21) sind seit 3 Jahren zusammen. Ich liebe ihn sehr, aber die Beziehung zu ihm ist speziell.
Er wurde mit 19 schwer misshandelt und missbraucht. Im Grunde kommt er recht gut klar damit. Wir haben bislang noch nicht miteinander geschlafen, aber wir haben dennoch engen Kontakt (auch Petting). Gewisse Sachen kommen für ihn bzw. uns nicht in Frage, rein sexuell gesehen.
Es gibt Tage, da sind wir wunderbar zärtlich miteinander und er genießt meine Berührungen und umgekehrt. Es hat lang gedauert, bis er nicht mehr anfing zu zittern, wenn ich ihm sein Shirt ausgezogen habe (die Misshandlungen haben ihre Spuren auf seinem gesamten Oberkörper hinterlassen). Und es gibt Tage, da erträgt er es nicht, wenn er berührt wird, oder er wacht nachts schreiend auf…
Wir führen wirklich eine harmonische und an sich problemlose Beziehung. Nicht, dass Du jetzt denkst, er ist gestört und nicht zu einem normalen Leben fähig.
Letztes Wochenende hat er mir ganz leise ins Ohr geflüstert, dass er gern mit mir schlafen würde. Wir haben es an diesem Abend nicht versucht, das wäre so geplant gewesen. Sondern wenn es das nächste Mal so ist, dass wir beide Lust darauf haben…
Aber ich habe Angst, dass es etwas in ihm auslösen könnte. Das er vielleicht in diesem Moment etwas spürt, dass ihn an seine „Erfahrung“ erinnert. Ich hab ein bissel Angst, dass er vielleicht dann nie wieder mit mir schlafen mag.
Ach Mensch, das hört sich so hirnrissig an, aber es ist echt ein Problem für mich. Ich bin nur einfach so froh, dass er überhaupt so weit geht. Und ich möchte ihm so gerne zeigen, dass er mir voll und ganz vertrauen kann und ihm nie wieder so etwas passiert. Ich möchte ihm einfach gern zeigen, dass er sich bei mir sicher fühlen und sich fallen lassen kann.
Hast Du einen Tipp für mich??? Oder, wenn Du mir nichts raten magst, weil es vielleicht zu heftig ist, dann sag mir wenigstens, ob Du denkst, dass ich bislang richtig gehandelt habe.
Karin (21)
Liebe Karin,
ich denke schon, dass du bis jetzt richtig gehandelt hast. Alle Achtung, du hast ja eine Engelsgeduld! Schon drei Jahre zusammen und noch nie miteinander geschlafen…! Aber da hätte ich schon mal ein paar Rückfragen an dich:
1) Vermisst du es nicht? Wie gehst du damit um?
2) Welcher Art war der Missbrauch, und wie lang ging er?
3) Hat er Anzeige erstattet?
4) Hatte er wegen des Missbrauchs schon mal eine Therapie oder etwas in der Art? Wenn ja, was genau?
Liebe Grüße,
Beatrice
Ist die Folter der Grund, warum er sexuelle Intimität vermeidet?
Hallo Beatrice,
Deine Rückfragen will ich Dir gerne beantworten.
1) Tja, weißt Du, was man nicht kennt, kann man nicht vermissen. Es ergab sich halt bislang nie die „Gelegenheit“ dazu, auch nicht mit früheren Freunden. Ich hab schon dran gedacht, wie es sein könnte, aber auch so wie es jetzt ist, ist es schön. Spaß hat man ja nicht nur beim Rein/Raus ;o)
2) Mein Freund wurde zusammen mit seinen Brüdern von Milizen verschleppt und gefoltert, weil sie angeblich Verbrechen und Spionage gegen ihr Oberhaupt begangen haben. Er ist zwar deutscher Abstammung, lebte aber im nahen Osten bei seinem Vater (jetzt bleibt er bei seiner Mutter). Wie lange er dort gefangen war, weiß ich nicht, ich mag ihn danach nicht fragen. Ich denke, er wird es mir erzählen, wenn er sich dazu bereit fühlt.
So alle Einzelheiten weiß ich nicht, weil es ihm nicht leicht fällt darüber zu reden. Meist erzählt er nur, wovon er geträumt hat, wenn er nachts aufwacht und ich das mitbekomme.
3) Hat er Anzeige erstattet?
Das erübrigt sich leider, da man die Verantwortlichen eh nie finden würde. Man hat ja bisher nicht mal seinen kleinsten Bruder wiedergefunden.
4) Hatte er wegen des Missbrauchs schon mal eine Therapie?
Er ist noch immer in Therapie.
Im Herbst soll er eine Hauttransplantation bekommen, und solange diese medizinischen Sachen nicht abgeschlossen sind, wird er sich weiter mit seiner Psychologin treffen. Er versucht mit ihr halt das alles zu bewältigen (sie ist da wohl wesentlich besser für geeignet als ich).
Als ich ihn kennenlernte, war er gerade am Anfang des Ganzen. Die körperlichen Verletzungen waren zu diesem Zeitpunkt schon recht weit verheilt (wir trafen uns im Krankenhausfoyer, weil wir zusammengestoßen waren).
Lieben Gruß, Karin
Beatrice rät:
Liebe Karin,
was für eine tragische Geschichte!
Lass mich auf deinen ersten Brief eingehen:
Du hast Angst davor, „dass es etwas in ihm auslösen könnte…. Dass er vielleicht in diesem Moment etwas spürt, das ihn an seine Erfahrung erinnert.“
Das könnte zwar passieren, doch die Wahrscheinlichkeit ist nicht allzu groß. Denn ich schätze, der Sex mit dir ist völlig anders als das, was er im Missbrauch erlebt hat, oder? Und immerhin ist Petting ja schon fast Sex. Ich vermute, die größten Hürden habt ihr schon genommen.
Außerdem solltest du vorher mit ihm drüber reden. Über deine Ängste, über seine Ängste. Trefft eine Vereinbarung, dass er es jederzeit abbrechen kann, wenn er sich nicht wohl fühlt oder einen Panikanfall bekommt o.ä. Sag ihm auch, dass dir das Abbrechen nichts ausmachen würde (denn ihr habt ja noch alle Zeit der Welt dafür).
Du hast „ein bissel Angst, dass er vielleicht dann nie wieder mit mir schlafen mag.“
Na und was ist jetzt? Jetzt schlaft ihr ja auch nicht miteinander. Ihr könnt also nur gewinnen, wenn ihr´s wagt. Wenn ihr´s nicht wagt, habt ihr auf jeden Fall verloren.
Du schreibst:
„Ich möchte ihm so gerne zeigen, dass er mir voll vertrauen kann und ihm nie wieder so etwas passiert. Ich möchte ihm einfach gern zeigen, dass er sich bei mir sicher fühlen und sich fallen lassen kann.“
Ich bin sicher, das weiß er bereits. Aber frag ihn doch einfach mal, welche Ängste er genau in Bezug auf euer erstes Mal hat. Vielleicht sind da noch ganz andere als die, die die Misshandlung ausgelöst hat.
Ich denke, es wäre auch eine gute Idee, dass er seine Therapeutin fragt, was sie davon hält, wenn ihr jetzt allmählich mal ans Miteinander-Schlafen geht. Vielleicht kann sie einschätzen, ob etwas dabei passieren kann oder nicht. Vielleicht bewirkt es ja sogar einen Schritt zur Heilung, wie bei der sog. „Konfrontations-Therapie“, wo der Patient mit einer Angst auslösenden Situation konfrontiert wird.
Auf jeden Fall wünsch ich dir und euch alles Gute
Beatrice Poschenrieder
((DREI WOCHEN SPÄTER))
Hallo Beatrice,
was soll ich Dir sagen: ES WAR WUNDERSCHÖN!!!!!!!
Du hattest so recht mit dem, was Du mir geraten hattest.
Wir haben uns vorher darüber unterhalten, und wie Du angedeutet hast, war es noch viel mehr, was ihm Angst machte.
Er hatte Angst davor, dass es mir nicht gefallen könnte oder er etwas falsch machen würde. Es hat uns beiden die Unsicherheit ein wenig genommen. Obwohl wir beide noch tierisch nervös waren…
Wir haben es uns gemütlich gemacht, fernab von unserer normalen Umgebung (wir haben uns ein paar Tage Urlaub genommen und ein kleines Haus gemietet). So richtig romantisch mit Kerzenschein und schöner Musik. Eigentlich wollten wir es uns nur gemütlich machen an diesem Abend (halt so mit Kuscheln und so), aber es wurde doch mehr draus.
Seitdem haben wir schon einige Male miteinander geschlafen.
Mensch, Beatrice, ich kann Dir gar nicht genug danken! Es war und ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl!
Nochmals vielen lieben Dank für Deine Ratschläge. Ich finde es toll, dass Du den Leuten Dein Wissen so zur Verfügung stellst.
Viele liebe Grüße, Karin