Bin ich immer wieder Opfer sexueller Übergriffe oder sehe ich das falsch?

Sexuelle Belästigung in der Kindheit, mehrere Vergewaltigungen als Teenager, später toxische Beziehungen: Alles Zufall? Oder ein Muster?

Liebe Beatrice,
als Kind wurde ich von einem “Freund der Familie” sexuell belästigt, als Teenager mehrfach vergewaltigt und hatte später Beziehungen, die mir ganz und gar nicht gut taten und in denen der sexuelle Missbrauch quasi immer eine Basis war.
Inzwischen hab ich einige Therapien und Selbsthilfegruppen hinter mir und fühle mich eigentlich die meiste Zeit völlig normal, habe Spaß am Flirten und am Sex mit meinem Freund (der erste, der mir gut tut – soweit das möglich ist ;o)), bin lebenslustig und humorvoll. Also eigentlich alles in Butter.
Aber zwischendurch passieren mir immer wieder seltsame Dinge, die ich nicht einordnen kann. Vielleicht deshalb, weil ich nie eine “normale” Sicht auf solche Dinge hatte? Deshalb bitte ich Dich um Deinen Rat, denn ich bin mir nicht sicher, ob es an meiner verkorksten Einstellung liegt, oder ob da mehr dahinter ist.

Mir passieren Dinge wie z.B. dass sich ein Mann nachts in einem völlig leeren Zugabteil ausgerechnet mir gegenüber hinsetzt und mir dann seine Knie so gegen meine drückt, dass ich quasi eingesperrt bin. Wenn ich meine Position veränderte, tat er es auch, behielt mich dabei auch ständig im Auge. Ich war völlig verunsichert, ob das mit den Knien nun Zufall war (so geräumig ist es im Zug ja nicht) und er mich nur freundlich angelächelt hat, oder ob ich da jetzt zu Recht Angst hatte. Ich hab dann einfach ausgehalten und konnte bald aussteigen, aber seitdem frage ich mich immer, was passiert wäre, wenn ich nicht ausgestiegen wäre. Vor allem, ob ich die Situation falsch eingeschätzt hätte und mich deswegen vielleicht zu spät oder gar überhaupt nicht gewehrt hätte, oder andersrum einem völlig unschuldigen Menschen etwas unterstellt, das gar nicht in seiner Absicht lag.

Oder eine andere Situation war, als mich ein älterer Mann in einer schmalen Gasse ansprach, als ich grade vom Einkaufen kam. Ich hatte die Hände voll und als er mich ansprach, war ich – meiner Meinung nach – normal freundlich bzw. höflich. Nach einem kurzen Small-Talk hat er mir wortreich erklärt, wie hübsch und nett er mich findet, sich verabschiedet und dann versucht, mich zu küssen. Nachdem ich da aber erschrocken zurückgewichen bin (und dabei “nein, nicht” gesagt hab, was erbärmlich leise war), kann ich nicht sagen, ob er mich auf Stirn, Wange oder den Mund küssen wollte. Ich weiß nun nicht, ob das einfach eine nett gemeinte Geste eines älteren Mannes war, den ich jetzt unnötig gekränkt habe, oder ob ich mich da zu Recht überrumpelt gefühlt hab. Vielleicht kam dieses Gefühl auch nur daher, dass es eben in dieser schmalen Gasse war (wo keine Haustüren oder Fenster sind) und weil ich die Hände voll hatte?

Oder einer meiner Professoren hat die Angewohnheit, ziemlich nah an jemanden heranzurücken, mit dem er spricht. Das macht er also nicht nur bei mir. Allerdings ist es ihm (oder mir?) mal passiert, dass er sich im Gehen gestikulierend umgedreht hat und mir dabei an den Busen gelangt hat. Er hat sich natürlich entschuldigt und es ist durchaus plausibel, dass das wirklich nur ein dummer Zufall war. Trotzdem hab ich nun ständig das Gefühl, dass er mich überdurchschnittlich oft in seine Sprechstunde zitiert und stundenlang redet, ohne wirklich was zu sagen (wobei vieles, was er sagt, ziemlich anzüglich/zweideutig interpretiert werden könnte, aber das ja vielleicht auch nur in meinem übersensiblen Hirn), und das eben seiner unangenehmen Eigenart entsprechend aufdringlich nah an mir. Ist das nun ein unglückliches Zusammentreffen von Zufällen und ein dummer Tick, den ich nicht so tragisch nehmen sollte, oder kann/soll ich dem Mann, der meine Prüfung betreut, sagen, dass er mir zu nah kommt?

Irgendwie gerate ich dauernd in solche Situationen. Ich weiß ja, dass ich bestimmt empfindlicher reagiere als andere Frauen wegen meiner Vorgeschichte, andererseits meine ich aber, das eigentlich gut im Griff zu haben.

Zum Beispiel ist eine Freundin von mir nach einem Discobesuch, bei dem ihr jemand im Gedränge der Besoffenen auf den Hintern gefasst hat, sofort nach Hause, um sich zu duschen, und fand das ganz furchtbar schlimm. Ich meine, klar ist das nicht unbedingt toll, aber ich weiß nicht… ich würde so einen Antatscher in einem Gedränge mit vielen johlenden Besoffenen nicht soooo ernst nehmen.

Also ich denke, ich bin eigentlich gar nicht so leicht zu erschüttern, trete auch relativ selbstsicher auf, aber wenn ich in so eine Situation komme wie die oben geschilderten, dann fällt meine Selbstsicherheit wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Reagiere ich da überempfindlich? Kann ich Leute da einfach nicht einschätzen oder schätze sie, schlimmer noch, völlig falsch ein?
Ich hätte gern einfach mal eine objektive Einschätzung… ich trau mich auch nicht, meine Freundinnen da zu fragen, weil es so an sich ziemlich lächerlich klingt, vor allem weil ich auch keine 15 mehr bin ;o). Ich möchte halt nur gern etwas sicherer sein, wenn ich die nächste seltsame Situation einschätzen muss.
Vielen Dank im Voraus,
Carina (27)

Ich werde immer wieder von Männern belästigt und begrapscht
Was soll ich tun, damit die Männer mich endlich in Ruhe lassen? Mich verhüllen?

Liebe Carina,
ich denke nicht, dass du die Situationen falsch einschätzt. Zuerst dachte ich: Ist ja ein bisschen viel auf einen Haufen… aber dann hab ich mich an meine eigenen Erlebnisse mit Mitte 20 erinnert. Wenn man als Frau in diesem Alter (oder jünger) eine Hübsche ist, ist man unglaublich vielen männlichen Übergriffen ausgesetzt. Dreiste Kerle versuchen´s einfach, und das Blöde ist, dass sie sehr feine Antennen haben, bei wem sie ein bisschen weiter gehen dürfen. Das merken sie vor allem an der Körpersprache, aber auch an der Stimme und den Worten der Frau, mit denen sie solche Typen in ihre Schranken weist oder eben nicht.
Das Tragische und Traurige an deiner Situation sind nicht nur die Übergriffe, sondern auch, dass du in deiner Kindheit offenbar nie richtig gelernt hast, deutliche körperliche und verbale Grenzen zu setzen (vielleicht wurdest du dafür sogar bestraft – oder dafür belohnt, dass du alles zuließest). Das ist leider bei fast allen Frauen der Fall, die mehrfach sexuell belästigt und vergewaltigt wurden und sogar in ihren Beziehungen missbraucht bzw. sexuell genötigt werden.
Wenn eine Frau nie gelernt hat, sich körperlich abzugrenzen, gehen bestimmte Männer genau so weit wie die Frau sie lässt, oder sogar noch etwas weiter. Und das ist oftmals VIEL zu weit.
Das alles soll abslout keine Schuldzuweisung an die betroffenen Frauen (also auch dich) sein, sondern ich bin voller Bedauern, dass diesen Frauen das Sich-Wehren weder erlaubt noch beigebracht wurde.

Aber um bei deinen Beispielen zu bleiben:
Der Mann im Zugabteil hat dich tatsächlich belästigt. Denn jeder anständige Mensch wahrt einen gewissen Anstands-Abstand. Du könntest das nächste Mal z.B. einfach sagen: “Bitte nehmen Sie Ihre Knie da weg, es ist ja genug Platz im Abteil.” Oder du gehst einfach gleich, und am besten gibst du ihm zum Abschied noch mit, dass er sich aufdringlich verhalten hat.

Der ältere Mann in der Gasse (was für ein blöder Sack!):
Normalerweise hat jeder Mensch eine Art Instinkt, wie weit er einen Fremden an sich heranlässt bzw. wie weit er sich einem Fremden nähern darf. Da ist eigentlich ein ziemlicher Abstand dazwischen, ich schätze, mindestens eine Armlänge. Eine Frau mit gesundem Selbstschutz weicht automatisch ein wenig zurück, wenn ein Fremder diese “Privatzone” überschreitet. Im Zweifelsfall drückt sie ihn sogar mit dem ausgestreckten Arm weg. Und sie würde vielleicht das Gespräch sofort beenden, wenn der alte Knacker anfängt zu schleimen.
Du hingegen hast Angst, ihn irgendwie zu verletzen oder zu verärgern, wenn du ihm irgendwie Einhalt gebietest. ABER: Nur weil du ein wenig mit ihm geplaudert hast, gibt ihm das noch lange nicht das Recht, dich anzubaggern und körperlich zudringlich zu werden!!!

Das mit dem Überschreiten der Intimzone betrifft auch deinen Professor. Versuch bei ihm mal folgendes: So oft er dir zu nah auf die Pelle rückt, weichst du zurück, und zwar genauso weit, wie du es brauchst, um dich wohl zu fühlen. Selbst wenn das bedeutet, dass du irgendwann an die Wand stößt. Vielleicht merkt er dann mal, wie aufdringlich er ist. Und dann solltest du ihm höflich sagen, dass du dich wohler fühlst, wenn er etwas mehr Abstand hält. Hab keine Angst, dass das für dich dann nachteilig wäre. Im Gegenteil, er wird mehr Respekt vor dir haben.
Ich hoffe zwar, sein Griff an den Busen war keine Absicht, aber es gibt einfach Menschen, die das mit dem Wahren der “Intimzone” nicht drauf haben. Die brauchen einfach ab und zu Hinweise!
Wenn jemand kein Feingefühl dafür hat, dass er dir zu nahe tritt, brauchst du auch kein Feingefühl für ihn zu haben. Punkt!

Offenbar hast du bei Männern (Fremden, Vorgesetzten wie auch Beziehungspartnern) Angst, dass sie irgendwie böse werden oder dass du ein “schlechtes Mädchen” bist, wenn du sie abwehrst, sobald sie dir zu nahe treten (bzw. übergriffig werden). Aber erstens werden viele gar nicht böse, sondern zollen dir sogar mehr Respekt, zweitens, es ist besser zu riskieren, dass sie böse werden, als zu riskieren, dass dein Körper und deine Seele Schaden nehmen.

Du sagst: “Ich weiß ja, dass ich bestimmt empfindlicher reagiere als andere Frauen wegen meiner Vorgeschichte, andererseits meine ich aber, das eigentlich gut im Griff zu haben.”
Ist es bei dir nicht eher nur ein Registrieren und weniger ein Reagieren?
Es ist gut, da immer empfindlich zu reagieren: durch eine deutliche Abgrenzung mit Gesten, Worten, Stimme, Körperhaltung. Und zwar immer und sofort!
Falls dir das in deinen Therapien und Selbsthilfegruppen nicht ausreichend vermittelt wurde, möchte ich dir ans Herz legen, entsprechende Kurse zu machen. Oft sind solche Techniken in Selbsthilfekursen für Frauen enthalten.
Dabei geht es auch nicht darum, so extrem und übertrieben zu reagieren wie deine Freundin nach dem Discobesuch. Angemessener wäre, den Typen zurechtzuweisen und dann die Sache zu vergessen.

Ich wünsche dir, dass du nie wieder in deinem Leben Opfer von sexuellen Übergriffen wirst, die dich verletzen und deiner Seele Schaden zufügen…
Beatrice Poschenrieder

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