Wieso kann ich nicht mit ihm schlafen, obwohl er mit der Vergewaltigung nichts zu tun hatte?

Vor 2 Monaten wurde ich vergewaltigt. Mein Freund weiß es, ist sehr geduldig und liebevoll. Als wir endlich wieder Sex haben wollten, ging nix!

Hallo Beatrice!
Ich habe ein Problem, über das ich nicht mit jedem reden will, ich denke, mir fällt es so anonym am leichtesten. Ich wurde mit 7 und 8 Jahren von einem Familienmitglied stark bedrängt, angefasst und überall gestreichelt. Daher habe ich bezüglich Sex schon immer eine kleine Blockade gehabt, doch mit viel Gefühl geht es.
Seit Januar habe ich einen neuen Freund (20), den ich sehr liebe, nach einigen Wochen Beziehung hatten wir auch Sex und es klappte gut; er wusste von meiner Vergangenheit.
Vor zwei Monaten war ich auf einem Fest, dort wurde ich vergewaltigt. Ich habe es meinem Freund erzählt, er war für mich da. Die ersten 4-5 Wochen haben wir uns nur umarmt und geredet, geredet, geredet… das war auch gut so. Als er dann vor knapp 2 Wochen bei mir geschlafen hat, wollten wir Sex haben. Er war so zärtlich und es tat mir gut, von ihm berührt zu werden. Aber als er eindringen wollte, ging gar nix. Auch als er einen Finger einführen wollte, ging nix. Ich hab die Vergewaltigung nicht verkraftet, das weiß ich. Aber ich lieb ihn doch… und ich weiß, dass er mir nicht weh tut, wieso geht es trotzdem nicht?
Vielleicht kannst du mir/uns ja helfen.
Miriam (18)

Nach einer Vergewaltigung ist ein Mädchen oder eine Frau oft wie gelähmt

Hi Miriam,
Zuerst einmal möchte ich dir sagen, dass es nur allzu verständlich ist, dass du nach einer Vergewaltigung eine sexuelle Blockade hast. Du wunderst dich, dass du sie auch in Bezug auf deinen Freund hast, obwohl du weißt, dass er dir nicht weh tut. Aber dein Körper kann nicht „denken“ – dein Körper erinnert sich an das erlebte Leid und versucht, es zu vermeiden. Vom Vorgang her ist das so ähnlich wie wenn man einmal eine schlimme Fischvergiftung hatte und ab da keinen Fisch mehr essen kann, selbst wenn man weiß, dass der Fisch, der da auf dem Teller liegt, einwandfrei ist. Schon bei dem Gedanken, einen Bissen in den Mund zu nehmen, schnürt es einem den Hals zu.
Ich weiß, das ist ein doofer Vergleich – hab ihn nur gebracht, um dir zu erklären, dass du Dinge, die vom Körper bzw. vom Unterbewusstsein gesteuert werden, oft nicht gut beeinflussen kannst. Wie es in der Psychologie so schön heißt: man muss sie be- und verarbeiten. Von daher hab ich Fragen an dich:
1) Was hast du getan, um die Vergewaltigung zu verarbeiten, außer mit deinem Freund drüber zu reden?
2) Hast du den Vergewaltiger angezeigt?
3) Wenn nein, warum nicht?
4) Wie genau kam es zu der Vergewaltigung?
5) Hast du mal eine Therapie wegen des Missbrauchs in der Kindheit gemacht?
Bis bald, Beatrice

Hallo Beatrice,
dass du mir geantwortet hast, hat mich sehr gefreut. Nun zu deinen Fragen:
1) Wie gesagt, hab ich sehr viel mit meinem Freund geredet, ich hab geweint, auch in seiner Gegenwart, es tat mir verdammt gut, manchmal einfach zu weinen. Auch schon früher, als ich missbraucht wurde, habe ich oft geweint.
Danach fühlte ich mich erleichtert.
Damals, als ich von einem Familienmitglied missbraucht wurde, hab ich es ein Jahr später, also mit 9, das erste Mal zu meiner Mutter gesagt. Erst wollte sie mir nicht glauben, aber ich denke, sie hat mir meine brutale Angst angemerkt. Ich war dann ein Jahr in psychologischer Behandlung. Ich denke deshalb kam ich mit der Zeit damit auch gut zurecht. Meine mutter sagte mir damals, dass mir sowas nie mehr passieren wird. Naja, ich hab ihr gelaubt und fühlte mich mit der Zeit wieder sicherer… die Angst konnte ich jedoch bis heute nicht ablegen.
Als mir vor 2 Moanten sowas nochmal angetan wurde, sogar noch schlimmer, war ich die ersten Tage wie betäubt. Ich wollte gar nicht drüber reden, aber irgendwann ging es nicht mehr. Ich hab nachts um 3 meinen Freund angerufen, weil es mir so schlecht ging, er kam vorbei.

2) Ich habe den Vergewaltiger nicht angezeigt.

3) Der Grund ist, dass ich nicht weiß, wer es war, und ihn nur grob beschreiben kann, und ich möchte nicht, dass es meine Eltern erfahren, da sie sich noch mehr Sorgen um mich machen würden. Wenn ich in ihrer Gegenwart bin, versuch ich
oft zu „spielen“, auch so, ich lache wieder und ich gehe auch weg, jedoch nicht allein… aber in mir sieht es oft gar nicht gut aus. Ich erwisch mich in letzter Zeit oft dabei, dass ich in meinem Zimmer sitze, ganz ohne Musik, und an meinen Fingernnägeln kaue. Ich weiß nicht, was das soll, ich weiß nur, dass ich es vorher nicht getan habe.

4) Also: Bei uns ist jedes Jahr ein großes Stadtfest. Da mein Freund in einer Band spielt und da einen Auftritt hatte, meinte er, sei bis 23 uhr fertig und würde mich dann anrufen. Auf dem Fest war auch mein kleiner Bruder, den ich dann mal suchen gehen wollte, weil der nicht so lang weg darf. Das Fest war im Park und ich musste auch an Stellen vorbei, wo kaum Leute waren. Dann kam mir ein Mann entgegen, der total betrunken war, er fragte mich nach der Uhrzeit, ich sagte es ihm und wollte weiter. Doch dann hielt der mich fest und meinte „nicht so schnell“ usw., er zog mich weg ins Gebüsch, er wollte mich immer küssen, aber ich drehte meinen Kopf weg. Er roch so schlimm nach Alkohol. Naja aber irgendwann konnte ich nicht mehr, er meinte immer, dass ich mich nicht wehren sollte. Ich lag dann da und wünschte mir tot zu sein. Einmal hab ich mich noch gewehrt, aber dann schlug er mein Handgelenk so fest auf den Boden, dass ich spürte, wie es blutete… Deshalb gab ich dann auf und ließ es über mich ergehen. Es tat weh und es war so ein schlimmes Gefühl. So viel erinnerte mich an früher, die ungewollten Berührungen, …
Als alles vorbei war, meinte er, dass er was zu trinken bräuchte, er ließ mich liegen, ich wollte weinen, schreien… alles gleichzeitig, aber es ging nicht. Ich schickte meinem Freund eine SMS, dass er kommen soll, daraufhin
rief er mich an und er spürte gleich, dass was passiert ist. Er kam dann zu mir.

Auf deine Frage 5) hab ich ja bereits oben geantowrtet.

Es tut mir gut, dir zu erzählen was passiert ist.
Danke – Miriam

Liebe Miriam,
ich bin nicht speziell geschult in Themen wie Missbrauch und Vergewaltigung, deshalb sag ich jetzt nur mal ein paar Dinge „aus dem Bauch raus“ dazu, und du darfst es auch nicht persönlich nehmen, wenn ich nicht die richtigen Worte finde, okay?
Also: Das zu lesen, ruft in mir große Wut und Mitgefühl hervor, aber auch noch etwas anderes, ein kämpferisches Gefühl. Was mir an deiner Geschichte auffällt, ist das passive Hinnehmen. Du warst in deiner Kindheit das hilflose Opfer, das sich nicht wehren konnte, und das hat sich in der Vergewaltigung wiederholt. Du bist in dieser „Hilfloses-Opfer“-Rolle von damals so gefangen, dass du selbst heute noch unfähig bist, dich gegen so ein Schwein zu wehren. Im Gegenteil scheinst du wie gelähmt, vielleicht auch starr vor Angst. Obwohl der Mann ein Drecksack ist, traust du dich nicht, ihn anzuschreien, ihn zu beschimpfen, ihn zu treten o.ä., und hinterher zeigst du ihn auch nicht an. Du bleibst in der Opferrolle. Das soll jetzt gar kein Vorwurf sein, sondern eine Aufforderung: Du musst raus aus dieser Rolle! Sonst passiert dir sowas immer wieder! Du musst aktiv werden!
Um dir zu erläutern, warum ich deine Haltung „passives Hinnehmen“ genannt habe, sage ich dir mal, wie ich reagieren würde (mir ist sowas im Ansatz ja auch schon öfter passiert, aber es kam nie zu einer Vergewaltigung).
Also. Ich suche meinen Bruder und komme in einen einsameren Teil vom Park. Da kommt ein Besoffener, fragt mich nach der Zeit. Ich drehe sofort um und tue, als hätte ich ihn nicht gehört, und gehe mit energischem Schritt und stolzer Körperhaltung in Richtung des Parks, wo Menschen sind.
Meistens gibt so ein Besoffener dann schon auf. Aber sagen wir mal, der hier ist ne Ausnahme. Er kommt also hinter mir her und hält mich am Arm fest. Ich schreie ihn an: „Lass mich sofort los oder ich brülle hier alles zusammen!“ Normalerweise lässt er dann los und lässt mich ziehen. Aber sagen wir mal, der hier ist der eine von Hundert, der nicht aufgibt. Er hält mich weiterhin fest, will mich wegziehen ins Gebüsch. Ich wehre mich, versuche mich mit aller Kraft zu befreien, trete nach ihm, brülle dabei wie am Spieß. Da er besoffen ist, ist er nicht so reaktionsschnell, und es gelingt mir, mich zu befreien. Ich renne weg, so schnell ich kann. Mittlerweile sind auch ein paar Leute herbeigekommen, wegen meines Geschreies. Ich rufe ihnen zu, „Der Besoffene da hat mich angegrapscht und belästigt!“ Spätestens ab da bin ich in Sicherheit.

Was ich mit dieser Geschichte sagen will: Du musst raus aus deiner Lähmung und musst lernen, wie man mit solchen Situationen umgeht und sich zur Wehr setzt. Dafür gibt es Kurse. Meistens heißen die „Selbstverteidigung für Frauen“ oder so ähnlich. Ich bitte dich inständig, melde dich so bald wie möglich zu sowas an. Ich möchte nicht, dass dir sowas nochmal passiert. In solchen Kursen lernst du auch, wie du schon von vornherein so eine Körpersprache bekommst, die nach außen zeigt: „Ich bin kein Opfer, ich bin eine starke Frau!“ Und so wirst du dich auch fühlen, vor allem wenn du ein paar Techniken aus der Selbstverteidigung beherrschst. Das ist wichtig, denn du bist in einem Alter, wo du für viele Männer das perfekte Opfer bist: sehr sexy, aber oftmals noch zu unerfahren, um sich richtig zu wehren.

Leider bezieht sich dein „passives Hinnehmen“ ja auch auf die Anzeige. Ich würde den Kerl anzeigen. Ich weiß, was damit verbunden ist. Etwas, was meinem intimsten Bereich zugefügt wurde, wird an die Öffentlichkeit gezerrt. Vielleicht versucht sogar jemand, mir anzuhängen, ich wäre zum Teil selbst schuld gewesen. Und ich versetze meine Eltern in Sorge – riskiere sogar, dass sie mich kaum noch allein rausgehen lassen.
Andererseits, wenn ich das Schwein ungeschoren davonkommen lasse, verstärkt das meine Rolle des Opfers und die Lähmung: Ich nehme hin, ich wehre mich nicht, der Kerl kann mir das Schlimmste antun und es passiert ihm nichts – er kann also jederzeit hingehen und mich (oder eine andere) wieder vergewaltigen.
Und das ist viel schlimmer als alles, was dir durch eine Anzeige geschehen könnte. Denn bei einer Anzeige bist du die Macherin. Und noch eins: Du bist kein bisschen schuld an den schlimmen Dingen, die dir zugefügt wurden.
Du kannst dieses Stück Scheiße auch heute noch anzeigen. Dein Freund könnte dir helfen, es zu bezeugen.
Ich möchte dich noch um etwas bitten: Ruf beim „Weißen Ring“ an:
01803 / 34 34 34
Das ist ein Verein, der Missbrauchsopfern hilft, bei Anzeigen unterstützt und Tipps für Therapeut/innen gibt usw. Und zwar anonym und kostenlos. Du kannst am Telefon, falls du einen Mann dran hast, auch gleich nach einer Frau verlangen. Und dann frag nach einer Person, die Erfahrung mit Vergewaltigungsopfern hat. Vielleicht nennen sie dir sogar eine, die in deiner Nähe wohnt.

Auf jeden Fall wird das aktive Heraustreten aus der Opferrolle dir ein Stück weit dabei helfen, auch wieder Intimität mit deinem Freund zulassen zu können. Wahrscheinlich dauert es eine Weile. Lass dir alle Zeit der Welt.

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Alles Gute
Beatrice Poschenrieder

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